Vermittlung von Kunst und Kultur
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Gegen das Vergessen, Wanderausstellung 2. Station

Ralf Schreiber, Oberbürgermeister Hochschulstadt Mittweida

20.01.2021 bis 25.02.2021

„Hätte ich Flügel, würde ich gleich wieder zu Euch fliegen.“

Dieser Satz ist nicht nur Titel eines Buches aus unserer Schriftenreihe „Mittweidaer Rückblende“ über das Schicksal ausländischer Zwangsarbeiter und in KZs Inhaftierter in Mittweida und Umgebung, er beschreibt vielmehr die Sehnsucht der Gefangenen und Verschleppten im Zweiten Weltkrieg.

Vor 75 Jahren, Ende April 1945, wurden viele Konzentrationslager von den amerikanischen Truppen befreit, so auch das Außenlager des KZ Flossenbürg in Mittweida. Das einstige Arbeitslager der C. Lorenz AG aus Berlin gehörte zwischen Oktober 1944 und April 1945 zu dem flächendeckenden System von Konzentrationslagern in Deutschland und den besetzten Gebieten. Allein in dem Mittweidaer Außenlager des KZ Flossenbürg waren in diesem Zeitraum 500 junge Frauen, unter anderem aus der ehemaligen Sowjetunion, aus Polen und dem ehemaligen Jugoslawien inhaftiert. Sie mussten unter unwirtlichen Bedingungen Zwangsarbeit für die deutsche Wirtschaft und damit für die Verlängerung des Krieges leisten.

Um an dieses schreckliche Kapitel der Geschichte auch in unserer Stadt zu erinnern, mahnt ein Gedenkstein mit einer bronzenen Tafel an der Feldstraße/Ecke Gartenanlage. Dieser wurde vor 15 Jahren unter großer Anteilnahme eingeweiht. Wir müssen uns die Frage stellen, warum erst zu diesem späten Zeitpunkt!? Erst nach der politischen Wende Mitte der 1990er Jahre wurde begonnen, dieses tabuisierte Stück Vergangenheit von engagierten Bürgern und Mitarbeitern der Stadtverwaltung Mittweida aufzuarbeiten. Ausschlaggebend für die Spurensuche war 1995 der Besuch zweier ehemaliger gefangener Polinen, Frau Irena Jeruszka und Frau Ivona Sawatzka, im evangelischen Gemeindehaus und in der Stadt Mittweida. Sie berichteten über ihre Zeit in dem Mittweidaer Außenlager, über die Gründe ihrer Inhaftierung und über ihre jahrelangen Versuche, dieses Unrecht aufzuarbeiten. Ihre Erinnerungen waren noch sehr präsent, doch wie in vielen anderen Städten war auch in Mittweida diese konkrete eigene belastende Vergangenheit nicht bekannt.

Die Warschauerin Irena Jeruszka schilderte ihren Leidensweg nach der Verhaftung: „1944, beim Warschauer Aufstand, verhafteten die Deutschen meinen Mann und mich, trennten uns von unserem einjährigen Töchterchen und schleppten uns nach Auschwitz. Mein Mann kam von dort nach Flossenbürg, dann in das unterirdische Panzermotorenwerk der Auto Union nach Leitmeritz. Krank und völlig entkräftet ins KZ-Hauptlager Flossenbürg zurückgebracht, starb er dort am 17. Februar 1945. Ich kam im Oktober 1944 nach Mittweida, mit 40 Grad Fieber. Mein ganzer Körper war ein großer roter Fleck: Flecktyphus! Zwei Wochen lang lag ich bewusstlos in Mittweida. Die Kameradinnen hielten meinen Gesundheitszustand geheim. Nach zwei Wochen schleppte ich mich erstmals in die Fabrik. Aber an der Maschine brach ich ohnmächtig zusammen und kam ins Revier, wo sich die Häftlingsärztin meiner annahm.“

Sie arbeiteten täglich zwölf Stunden im Zweischicht-System unter Aufsicht von 16 SS-Männern und 23 SS-Aufseherinnen, um Kunststoffgehäuse für U-Boote und Messerschmidt-Flugzeuge bei dem Berliner Unternehmen C. Lorenz AG herzustellen. Die Arbeit und mangelhafte Nahrungsversorgung zehrten an den körperlichen Kräften der jungen Frauen, welche zwischen 19 und 23 Jahre jung waren. Die unmenschlichen Arbeits- und Lebensbedingungen im Außenlager Mittweida waren keine Seltenheit und spiegelten sich in der Unterbringung in zwei kaum beheizten Holzbaracken, verschlissener Altkleidung, fehlender Unterwäsche und mangelnder Hygiene wider. Das Außenlager wurde Mitte April überstürzt aufgelöst, und sie verließ die Stadt ihrer verlorenen Jugend in einem Flüchtlingstreck. Die Frauen mussten zu Fuß über Hainichen nach Freiberg marschieren und wurden dann in offenen Waggons in Richtung tschechischer Grenze gebracht. Einige Häftlinge befreiten sowjetische Truppen Anfang Mai 1945 in Prag. Andere wurden weiter nach Budweis (České Budějovice) transportiert und dort von der amerikanischen Armee befreit. Die Zahl der Leidensgenossinnen, welche dabei ums Leben kamen, ist nicht bekannt.

Nach dem Krieg hat sich Irena Jeruszka in Polen ein neues Leben aufgebaut und viel an die traumatische Zeit in Mittweida und Flossenbürg gedacht. Was sie bereits bei ihrem ersten Besuch in Mittweida sehr nachdenklich gemacht hat, war, dass an der Stelle des ehemaligen Außenlagers nicht an diese schreckliche Vergangenheit erinnert wird.

Dies nahm die Stadtverwaltung zum Anlass, die Geschichte des KZ-Außenlagers Mittweida durch den Historiker Andreas Künzel aufarbeiten zu lassen. Dabei wurden zahlreiche Quellen gesichtet und noch lebende Zeitzeugen befragt. Interessant war das noch vorhandene umfangreiche Wissen in der Bevölkerung, aber auch das teilweise hartnäckige Abstreiten der Existenz eines solchen Lagers in unserer Stadt. Deutlich wurde dabei vor allem, dass nach den schrecklichen Ereignissen des Zweiten Weltkrieges nicht nur das Erlebte verdrängt wurde, sondern dass die individuelle, persönliche Schuld von staatlicher Seite in der DDR nicht gesucht wurde. Zum eigenen Schutz und zur Rechtfertigung der eigenen Politik wurde die Frage der Schuld den anonymen Nationalsozialisten und Teilen der Bevölkerung der BRD zugeschrieben. Dies erklärt, warum eine neutrale, nicht politisch motivierte Aufarbeitung der Vorgänge im Zweiten Weltkrieg im Bereich der ehemaligen DDR schwierig bis unmöglich war.

Nach den Recherchearbeiten für das Buch von Andreas Künzel hatte die Stadtverwaltung eine fundamentierte Datenlage, welche für eine Veröffentlichung ausreichte und darüber hinaus die Notwendigkeit der Schaffung eines Gedenksteins gegen das Vergessen und für die Erinnerung an das Unrecht gegenüber den inhaftierten 500 Frauen im KZ-Außenlager Mittweida aufzeigte. Daraufhin beschloss der Stadtrat der Stadt Mittweida, in der Nähe des ehemaligen Lagergeländes ein Mahnmal für dieses Unrecht zu errichten. Am 25. April 2005 wurde dieses mit einer bronzenen Erinnerungstafel enthüllt. Das Besondere dabei war, dass die Enthüllung zwei ehemalige Insassinnen, Frau Ljuba Karpowitsch und Frau Galina Kastritzkaja aus Minsk, vornahmen. Sie waren nicht nur sichtlich gerührt, sondern bestätigten in einem nachfolgenden Gespräch die Rechercheergebnisse. Als wir ihnen von dem uns vorliegenden Brief mit dem Satz: „Hätte ich Flügel, würde ich gleich wieder zu Euch fliegen.“ berichteten, sagten sie gleichlautend: „Der wurde nicht aus dem KZ geschrieben. Wir durften keine Briefe schreiben. Unsere Verwandten wussten nicht, wo wir sind. Das kann nur ein Brief von Zwangsarbeiterinnen sein, und die durften nur positiv berichten.“

Frau Ljuba Karpowitsch kam durch eine Anzeige einer Kollegin in das KZ Auschwitz und dann nach Flossenbürg bzw. Mittweida. Ihr wurde unterstellt, sie hätte als Apothekerin Arznei an Partisanen gegeben. Das hat bereits gereicht, dass sie verschleppt und ihrer Jugend beraubt wurde. Bei der Verabschiedung sagten beide sinngemäß: „Wir versuchen jedes Jahr zur zentralen Gedenkveranstaltung nach Flossenbürg zu kommen. Das darf nie wieder geschehen! Doch wir werden immer weniger. Deshalb sind wir froh, wenn unsere Schicksale nicht vergessen werden und für die Zukunft mahnen.“

François Maher Presley

Stiftung für Kunst und Kultur
(Gemeinnützige Treuhandstiftung unter dem Dach der Haspa Hamburg Stiftung)
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