Vermittlung von Kunst und Kultur
Vermittlung von Kunst und Kultur

Gegen das Vergessen, Wanderausstellung 12. Station

Programm zur Vernissage der Ausstellung am Samstag, 20.05.2022, 17 Uhr

Dauer: 16.05.2022 bis 17.06.2022 in der Universitätsstadt Freiberg

"Werner-Hofmann-Haus" Landratsamt Mittelsachen
Frauensteiner Straße 43, 09599 Freiberg

Mitglieder der Mittelsächsischen Philharmonie spielen die Nationalhymne der Ukraine

 

François Maher Presley zur Schweigeminute zum Gedenken der ukrainischen Opfer der vielen kriegerischen Ereignisse von 2014 bis zum heutigen Tag

 

Begrüßung durch Landrad Matthias Damm

 

Einführung durch Rikola-Gunnar Lüttgenau, Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora
 

Musikalischer Rahmen durch Mitglieder der Mittelsächsischen Philharmonie

Mauthausen-Kantate

Text: Iakovos Kambanelis / Nikos Gatsos (Deutsche: Gisela Steineckert)

Musik: Mikis Theodorakis, Solistin: Uta Simone

Musikalische Leitung: José Luis Gutièrrez Hernandez

 

(Bildergalerie: Bitte auf die Bilder klicken, um die Namen zu lesen.)

Matthias Damm

Sehr geehrte Frau Dr. Maaß,

sehr geehrte Damen und Herren Kreisräte,
sehr geehrte Herren Bürgermeister,
sehr geehrter Herr Presley und weitere Vertreter der gleichnamigen Stiftung,
sehr geehrter Herr Lüttgenau,
verehrte Gäste,

nachdem ich an verschiedenen Orten unseres Landkreises dort jeweils die feierliche Eröffnung unserer Wanderausstellung „Gegen das Vergessen“ vorgenommen habe, freue ich mich sehr, Sie als unsere Gäste heute hier im Innenhof des „Werner-Hofmann-Hauses“ des Landratsamtes in Freiberg begrüßen zu dürfen. Wir haben diesen Ort bewußt gewählt.


Seit Januar 2018 trägt dieses Gebäude den Namen des ehemaligen Betriebsdirektors des hiesigen Porzellanwerkes.

Von 1906 bis 1930 leitete Werner Hofmann das Freiberger Porzellanwerk. In Freiberg und darüber hinaus war er als Ingenieur und Wissenschaftler angesehen und hatte sich Verdienste erworben.

1929 erfolgte die Verleihung der Ehrendoktorwürde der Bergakademie Freiberg „In Anerkennung seiner hervorragenden Verdienste um wissenschaftliche, technische und organisatorische Förderung der deutschen Elektro-Porzellanindustrie“, so der ehemalige Rektor Franz Kögler.

Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten im März 1933 nehmen die Repressalien für Werner Hofmann und seine Familie von Jahr zu Jahr zu, die letztendlich zum Tod des Wissenschaftlers und Unternehmers im März 1939 führen.

Die 1.000 jüdischen Mädchen und Frauen, die aus den Ghettos in Lodz, Theresienstadt oder Sered nach Auschwitz und anschließend zur Zwangsarbeit an die Frauensteiner Straße nach Freiberg als Außenstelle des Konzentrationslagers Flossenbürg deportiert wurden, erfuhren in ähnlicher, gleicher oder noch grauenhafterer Weise hier unsagbares Leid. Und Flossenbürg hatte neben Freiberg ca. 60 solcher Außenlager, davon in unserem jetzigen Landkreis in Rochlitz, Mittweida, Hainichen und Oederan.

Die Außenlager waren zwar organisatorisch dem Hauptlager in Flossenbürg unterstellt, zeichneten sich aber durch eigene Lagerstrukturen, eigene Unterkünfte und eigene Wachmannschaften aus. Die Schikanen und der Terror der Bewacher und Kapos unterschieden sich in den Außenlagern kaum von denen im Flossenbürger Hauptlager. Die Ausstellung, die wir heute hier eröffnen, zeigt solche Situationen in sehr eindrucksvoller Weise an einem vergleichbaren Ort.

Die Zeitzeugin Lisa Mikova erinnert sich: „Wir waren zum Tode bestimmt“.

Meine Damen und Herren,
seit dem 27. Januar 2018 trägt dieses Haus den ehrenvollen Namen Werner Hofmanns und erinnert an die mit seinem Namen verbundene wechselvolle Geschichte dieses Hauses.

„In bewusster Verbindung mit dem Internationalen Holocaust-Gedenktag wird in eindrucksvoller Weise unsere gemeinsame Verantwortung für Geschichte, Gegenwart und Zukunft unseres Gemeinwesens festgehalten.“ so Dr. Michael Düsing, der sich insbesondere große Verdienste bei der Aufarbeitung der Verbrechen und Greul aus der Zeit des Nationalsozialismus in Freiberg und Umgebung erworben hat.

Die Ausstellung wird bis zum 17. Juni gezeigt und im Werner-Hofmann-Haus zu sehen sein. Auch der 17. Juni ist in unserer Geschichte ein bedeutsames Datum und passend in Verbindung mit der Erinnerung an totalitäre Herrschaft in Deutschland.

So wie diese Ausstellung durch 12 Städte und Gemeinden des Landkreises „gewandert“ ist, so sind tausende Häftlinge in den letzten Kriegstagen des Jahres 1945 durch ganz Deutschland in Marsch gesetzt worden.

Kaum ein Ort in unserem Landkreis blieb damals von den Füßen dieser von Leid und Hunger gepeinigten Menschen unberührt.

Absicht und Ziel der Nationalsozialisten war es, ihnen ihre Würde zu nehmen und am Ende auch ihr Leben.

Allzu offenkundig wurden die Greul des Naziregimes in den letzten Stunden ihres „Tausendjährigen Reiches“. Auch der letzte Zweifler bekam vor Augen geführt, wieviel Menschenverachtung hinter den Stacheldrahtzäunen herrschte.

Dabei machte es keinen Unterschied woher man kam, ob Mann, Frau oder Kind.

Mit unseren heutigen Wertvorstellungen und Maßstäben des friedlichen Miteinanders in einer demokratischen Gesellschaft überhaupt nicht mehr vorstellbar.

Ich habe mehrfach an Gedenkveranstaltungen anläßlich der Befreiung des Konzentrationslagers Flossenbürg teilgenommen und habe dabei z.B. Dr. Jack Terry, Sprecher der ehemaligen Häftlinge des Konzentrationslagers Flossenbürg persönlich erlebt. Ich bin tief ergriffen und beeindruckt von seinem Schicksal, aber auch von seiner Haltung und seinem Kampf gegen das Vergessen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,
kaum oder schwer vorstellbar wozu Menschen unter gewissen Umständen fähig und in der Lage sind und wie schnell auch heute wieder dieselben Verhaltensweisen und Grausamkeiten in vergleichbaren Situationen aufkommen. In der Ukraine wird uns das täglich vor Augen geführt.

Und es entstehen dann sofort die nicht endenden Fragen: Wo liegen die Wurzeln von Diktatur und Terror, wo liegen die Triebfedern für Entrechtung und Verfolgung von Menschen? Welche Haltungen und Einstellungen bereiteten totalitären Diktaturen den Weg? Haben wir aus der Geschichte gelernt?

Manchmal frage ich mich: Was würden die Toten, die in Konzentrationslagern ermordet wurden und in den Weltkriegen starben, wohl sagen, wenn sie mit uns sprechen könnten? Wenn Sie uns von ihren Erlebnissen berichten könnten, ob wir dann manches in anderem Licht sehen würden?

Es ist unser Vermächtnis, unsere Pflicht, Erinnerungen wach zu halten, Vorstellungen und Wissen zu vermitteln, um jeglichem Rechtspopulismus und Extremismus keinen Raum zu geben, das Geschehene in irgendeiner Weise in Abrede zu stellen oder am Ende zu leugnen.

Unsere Ausstellung tut das mit eindrucksvollen Bildern und Texten.

Ich bin den beiden Stiftungen der „François Maher Presley Stiftung“ und der „Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora“ in besonderer Weise für die Gestaltung sowie das Begleitbuch dankbar.

Dem Vorstand, Herrn Presley, danke ich persönlich dafür, dass er die gemeinsame Idee aufgegriffen, hervorragend und ungeheuer schnell und eindrucksvoll umgesetzt hat.

Ebenso gilt mein Dank Ihnen, Herr Ließke und Herrn Steffen Blech sowie den Helfern vor Ort. Sie organisierten alles Notwendige, damit die Ausstellung einen ansprechenden Rahmen erhält. Danke vielmals. Ebenso natürlich mein Dank an die Unterstützung und Umsetzung in unserem Haus.

Sehr geehrte Damen und Herren,
lassen Sie mich schließen mit einem Zitat von Richard von Weizsäcker:

"Jüngere und Ältere können sich gegenseitig helfen, warum es lebenswichtig ist, die Erinnerung wach zu halten.

Es geht nicht darum, Vergangenheit zu bewältigen. Das kann man gar nicht. Sie lässt sich ja nicht nachträglich ändern oder ungeschehen machen.

Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart.

Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahr."

Es ist unser Vermächtnis, es ist unsere Pflicht, die aus dem größten Massenmord der Geschichte aufgebaute und entwickelte Demokratie in Deutschland und in Europa zu bewahren und zu verteidigen.

Dank an Presley-Stiftung und allen Unterstützern. Dank an Mittelsächsische Philharmonie. Dank an Intendant Herrn Schulze für sein Wirken und engagiertes und konstruktives Miteinander.

Rikola-Gunnar Lüttgenau

 

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

 

heute geht es nicht um „die Deutschen“. Oder „die Amerikaner“. Oder „die Ukrainer“ oder „die Russen“. Heute geht es um Kinder, um die Kinder von Buchenwald. Und was sie gesehen haben. Und was sie uns zeigen können.

„Eine Tür, die geschlossen ist, wird überklettert, ein Fenster, das man nicht öffnen kann, wird eingeschlagen. Sie haben vor nichts Angst, sind sie doch so vertraut mit Tod und Leben, dass sie nicht einmal vor Selbstmord zurückschrecken, um sich aus einer unangenehmen Lage zu befreien. (...) Sie können von einer unbegreiflichen Härte sein, die maßlos zuschlagen kann - und doch einen ganz weichen, guten Charakter haben. Sie lügen und stehlen - und sind doch ehrlich, denn vorher war es eine Lebensnotwendigkeit gewesen, und sie können nicht von einem Tag auf den anderen umlernen, daß etwas, was vorher gelobt worden war, nun verworfen wird.“

 

Diese Sätze stammen von der jungen Liselott Walz, einer Schweizerin, die 1945 in dem Heim Felsenegg auf dem Zugerberg/Schweiz ein Praktikum absolvierte. Seit dem Juni sind hier 350 Jugendliche – 14 bis 20 Jahre – untergebracht. Sie kommen alle aus Buchenwald. Die Schweizer Flüchtlingshilfe hat sie zur Genesung aufgenommen. Unter ihnen ist ein Junge, der sich später in Israel den Namen Thomas Geve geben wird; seinen alten Namen wird er aus Auschwitz und Buchenwald nicht wieder auftauchen lassen.

 

Liselott Walz fragt sich, was Kind, was Erwachsener in diesen Menschen ist, zu deren Betreuung sie sich freiwillig gemeldet hat. Sie wird bewegt von den Zeichnungen der Jugendlichen. Ihre Fähigkeiten, zu malen – man sieht es auch bei den Bildern von Thomas Geve, die noch im befreiten Lager Buchenwald entstanden sind - waren beschränkt. Im nationalsozialistischen Deutschland durften als Juden definierte Kinder nicht mehr auf normale Schulen gehen, später waren auch die Jüdischen Schulen verboten. Doch ihre Augen, auch die Augen von dem Kind, das

 

sich Thomas Geve nennen wird, sollten später eine Welt sehen, in der die Erwachsenen dieser Welt zu Ahnungslosen, also zu Kindern, geworden wären.

 

In jener Welt der Lager war es die Lüge, die Anlass für den SS-Mann gewesen sein konnte, einen am Morgen nicht für den Steinbruch einzuteilen. Ein Tag mehr Leben. Die Lüge eines Mithäftlings war es, die einen an der abendlichen Selektion vorbeilancierte. Ein Tag mehr Leben – aber nicht für den Gefährten, der am Ende der Kolonne stand, weil man sich vorgerempelt hatte. Auch der Raub des Brotes von demjenigen, der sich nicht wehren konnte, konnte ein Mittel sein, zu denjenigen zu gehören, die sich noch wehren konnten. (Primo Levi schreibt: „Die Vermutung, ein abgefeimtes System, wie es der Nationalsozialismus war, spreche seine Opfer heilig, ist naiv, absurd und historisch falsch; im Gegenteil: Es degradiert sie und verleibt sie sich ein.“) In einem Konzentrationslager war die Lüge das Leben, die Wahrheit der Tod.

 

Die Duldung eines Kapos, der den Körper eines Jungen aus der Masse der Namenlosen für seine Befriedigung gewählt hatte, konnte mehr als ein paar Stücke Brot sein. Seine Wahl war vielleicht die einzige Karte, die einem in dem Glücksspiel um das eigene Leben in die Hand gegeben wurde. In der Lagersprache wurden die Gewählten „Puppenjungen“ genannt; Thomas Geve schreibt in seinen Erinnerungen, daß fast alle von den Jüngeren, die das Glück hatten, irgendwie im Hauptlager und nicht in einer der Sonderzonen des Sterbens gelandet zu sein, solche Angebote erhalten hatten.

 

Der SS war es gelungen, eine Welt zu erschaffen, in der das Leben vom eigenen Handeln abgekoppelt war. Strafe war hier nicht in einer vorhergehenden Handlung begründet, sondern hatte ihren Grund ausschließlich darin, die Macht der SS erneut zu manifestieren. Selbst dem kleinsten SS-Blockführer – oft selber nur 18 Jahre alt – war die völlige Verfügungsgewalt über die Menschen gegeben worden, die jederzeit von ihm vollzogen werden konnte – und wurde. Sie waren die unumschränkten Herrscher der Gegenwart, so unumschränkt, daß sie in

 

jener Welt die Kategorien Vergangenheit und Zukunft ohne Bedeutung werden ließen. Es war ohne Belang, was man gemacht hatte; es war ohne Belang, was aus einem wurde. Für die Häftlinge gab es nur die Gegenwart, die sich aus Zufällen, die die SS bestimmte, zusammensetzte.

 

Thomas Geve gelangte sehr spät in diese Maschinerie der Lager. Er hatte es 1942, als die ersten Deportationszüge aus Berlin nach Auschwitz rollten, geschafft, eine Bescheinigung zu bekommen, daß er „unabkömmlich“ sei. Er war „Erdarbeiter“, wie es offiziell hieß, auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee. Doch schon bald müssen er, der 13-jährige Totengräber, und seine Mutter das möblierte Zimmer, in dem sie hausen, verlassen - nicht, weil die Gestapo an der Tür klopft, oder zumindest nicht direkt: „Wieso“, sagte damals der Hauswirt, „es ist doch nicht meine Schuld, daß die Gestapo alle anderen Untermieter deportiert und die Türen versiegelt hat. Ihr beide wohnt doch jetzt hier drin, also müßt ihr auch die Miete für die ganze Fünfzimmerwohnung bezahlen.“ – was unmöglich war. Doch auch in der neuen Unterkunft bleiben sie nicht lange, sie gehen in das Sammellager an der Hamburger Straße, von dem aus sie 1943 nach Auschwitz transportiert werden.

 

Als Thomas Geve auf der Rampe von Auschwitz – nach der Trennung von seiner Mutter ­– zur Arbeit selektiert wird, geht er auf den SS-Führer zu und schlägt die Hacken zusammen. Wahrheitsgemäß sagt er: „Ich bitte Sie sehr um meine Versetzung. Ich bin noch nicht 14 Jahre alt und fühle mich hier nicht am Platze.“ Der SS-Mann fragt hämisch: „Und, wohin möchtest Du?“ „Ins Kinderlager.“ „Wir haben kein Kinderlager.“ Thomas insistiert „Können Sie mich, bitte, mit anderen Jugendlichen zusammen bringen?“ und hat Glück, daß der SS-Mann zwar verärgert, aber nicht genug motiviert ist, zu handeln. Alles soll so bleiben, wie es ist: „Eines Tages wirst Du froh sein, daß ich es nicht gemacht habe. Du bist nun mal hier und damit basta. Und jetzt ab.“

 

Bis 1942 gab es so gut wie keine Kinder und Jugendliche in den Konzentrationslagern des Deutschen Reiches. Anfangs, 1933/34, dienten die Lager noch der kurzfristigen Ausschaltung innenpolitischer Gegner,

 

Kinder waren auch in den Augen der Nazis da nicht drunter. (Hier in Sachsen gehörten zu diesen frühen KZ etwa Sachsenburg oder Colditz und der Hohnstein.) 1935/36 wurde das Gegnerkonzept der SS und der Polizei ausgeweitet, die frühen KZ wurden aufgelöst und drei große, moderne Lager geschaffen: Sachsenhausen für Nord-, Buchenwald für Mittel- und Dachau für Süddeutschland, Ravensbrück für die Frauen. Die Mehrheit der Häftlinge waren jetzt nicht mehr die bereits erfolgreich bekämpften politischen Gegner, sondern all diejenigen, die in den Augen der Nazis nicht zur neuen Volksgemeinschaft gehören, die weggesperrt, isoliert werden sollten: Bettler, Obdachlose, Sinti und Roma und Vorbestrafte. Das menschenverachtende Programm der „Rassehygiene“ lief an und da die nationalsozialistische Politik im Zuge der seit den 1920er Jahren populären Kriminalbiologie davon ausging, daß gesellschaftliche „Auffälligkeit“ erblich bedingt war, wurden viele dieser „Asozialen“ rassenkundlich erfasst – und in umliegenden Krankenhäusern sterilisiert. Auch hier gab es noch keine Kinder.

 

Erst Ende 1941, als man begann, sich im Osten im Völkermord zu üben, gelangten auch zunehmend Kinder und Jugendliche in den Zugriff der SS-Einsatzgruppen, der Wehrmacht und der Polizei-Reservebataillone. Jetzt ging es nicht mehr ums Wegsperren; die Juden im Osten sollten ein für alle mal aus dieser Welt geschafft werden. Dazu gehörten auch die Kinder. Ein 35-jähriger Metallarbeiter aus Bremerhaven, der zum Hamburger Reserve-Polizeibataillon 101 zur „Partisanenbekämpfung“ eingezogen worden war, beschreibt sein Vorgehen folgendermaßen: „Ich habe mich, und das war mir möglich, bemüht, nur Kinder zu erschießen. Es ging so vor sich, daß die Mütter die Kinder bei sich an der Hand führten. Mein Nachbar erschoß dann die Mutter und ich das dazugehörige Kind, weil ich mir aus bestimmten Gründen sagte, daß das Kind ohne seine Mutter doch nicht mehr leben konnte. Es sollte gewissermaßen eine Gewissensberuhigung für mich selbst sein, die ohne ihre Mutter nicht mehr lebensfähigen Kinder zu erlösen.“

 

Kinder waren in den KZ in der Tat nicht vorgesehen. Waren es jüdische Kinder, so trat ihnen nur ein Vernichtungswille entgegen, sonst nichts,

 

und der wurde nicht in den KZ des Reiches, sondern in speziell dafür errichteten Tötungsstätten im Osten vollzogen: Sobibor, Treblinka, Chelmno, Belzice.

 

Die großen Hauptlager des KZ-Systems taten inzwischen - wir befinden uns im Jahre 1943, nach dem Stalingradschock - das Gegenteil von dem, wozu sie geschaffen worden waren. Hatten sie zuvor die Menschen, die die Nationalsozialisten ausgegrenzt, als „Ballastexistenzen“ und gefährlich für die neue Volksgemeinschaft deklariert hatten auf einen Ort konzentriert und dort terrorisiert, so pumpten sie dieselben nun als beliebig ersetzbare Arbeitskräfte in das Land zurück. Es entstanden überbordende Lagerkomplexe; allein von Buchenwald aus wurden 139 Außenlager in der Rüstungsindustrie verwaltet, vor allem im mitteldeutschen Raum: im Rheinland, in Hessen, in Sachsen.

 

Und das war auch der Moment, wo die bereits bei Thomas Geve anfangs benannte Rampe in Auschwitz entstand. Die Juden Europas wurden selektiert: in Arbeitsfähige, die in den Lagern der Rüstungsindustrie Zwangsarbeit verrichteten, und Arbeitsunfähige, die von der Rampe weg direkt zu den Gaskammern der Krematorien geführt wurden. Von nun an gelangten Zehntausende von Kindern in die Ausbeutungsmaschinerie der Konzentrationslager. Sie alle waren „Überlebende“ der Rampe von Auschwitz, aber die Hölle stand ihnen noch bevor.

 

Waren die Konzentrationslager anfangs in Größe und in ihrer Isolation doch annähernd überschaubar gewesen, glichen sie jetzt einer sich permanent erneuernden, d. h. sterbenden und neu rekrutierten Großstadt. Die Menschen waren ständig in Bewegung, neue Kontingente herbeigeschafft, Selektionen durchgeführt, Quartiere improvisiert, das menschliche Arbeitskräftereservoir in Sonderzonen verdichtet, um es jederzeit abrufen zu können.

 

In Buchenwald war es das „Kleine Lager“, das als Arbeitskräftereservoir für die vielen Außenlager diente.

 

 

(hier in Sachsen waren Buchenwalder Außenlager etwa Colditz oder Schlieben; bei Ihnen war zumeist das zuständige Hauptlager jedoch Flossenbürg, wie auch ab dem 31. 8. 1944 hier in der ehemaligen Porzellanfabrik in Freiberg, wo aus Auschwitz kommend über 1.000 jüdische Frauen aus Osteuropa untergebracht waren (bis Januar 1945, dann in dem etwa 2 Kilometer entfernten Barackenlager, bewacht von 28 sich freiwillig gemeldeten Aufseherinnen) und hier hauptsächlich für die Rüstungsindustrie arbeiteten, aber z. B. für die Stadt Freiberg vor Weihnachten auch Christbaumschlangen zu hängen hatten.)

 

Mit der sich ständig beschleunigenden „Abarbeitung“ der Häftlinge entstand in den Lagern ein Grauen, das zuvor unbekannt gewesen war.

Und wer sich mit dem weit in die Gesellschaft ausgreifenden Außenlagersystem beschäftigt, wird feststellen, dass die Betriebsleitungen vor Ort, die die Häftlinge bei der SS angefordert hatten, kein Gegengewicht zum Terror der SS darstellten. Im Gegenteil: Die eingeübte Gewalt der SS wurde oftmals übernommen, sie „vergesellschaftete“ sich, wurde zur deutschen Normalität.

 

Sucht man nach den Gründen für die Gewalt in den Fabriken, in den Außenlagern, verfolgt man die überlieferten Biographien der SS-Männer, Aufseherinnen und Verwaltungsfachleute  … wird man zunächst nicht fündig: Ihre soziale Herkunft, ihre Charaktere, ihre Motive und Überzeugungen, sie alle sind nicht deckungsgleich zu bringen mit dem Geschehen, dem Verbrechen, das doch so unbestreitbar zu konstatieren ist. Für den mörderischen Alltag in den Außenlagern ist es nahezu gleichgültig, ob der oder die Vorarbeiterin überzeugte Nationalsozialistin ist oder nicht.

 

Die Häftlinge werden gequält, weil sie immer schon gequält wurden, sie werden getötet, weil sie als soziale Wesen vorher schon getötet wurden. Zumeist gibt es nichts als diese anormale Normalität, Gewohnheit, Alltag, alles ist ganz natürlich - für ein KZ, für die SS-Männer und Fabrikaufseherinnen und für die Häftlinge.

 

 

Jene, ganz „natürlich“ ablaufende Welt, zeichnet Thomas Geve: Einlieferung, Desinfektion, Tätowierung, Appell, Ausrücken, Arbeit, Hunger, Tod. Tod als Alltag eines Kindes.

 

In den Konzentrationslagern starb niemand „für“ etwas, weder für sich, für ein abstraktes Etwas, geschweige denn für uns. In jener Welt, die Thomas Geve zeichnet, gibt es auch keine Individuen - weder als Opfer, noch als Täter. Er zeichnet keine persönlichen Impressionen und Erlebnisse. Er zeichnet als Kartograph, als getreuer Chronist einer Maschine, derer er teilhaftig geworden ist - und die er wundersamerweise überlebt hat. Er vergewissert sich nüchtern seines Wissens  (– und schreibt damit für uns – aus Sicht eines Kindes – die Geschichte weiter, die mit dem Tagebuch von Anne Frank abbricht.)

 

Angesichts der Evidenz jener Welt, wurde die Welt, die wir als die eigentliche bezeichnen, zum Unselbstverständlichen. Wenn das andere so „natürlich“ möglich war, wie es war, wie soll es da Vertrauen in den Menschen und wie sie sich zueinander verhalten, geben? Die „Zivilisation“ erscheint mit dieser Erfahrung nur als dünner Firnis. Das „eigentliche“ Leben wird zum Anormalen, zum Wunder, über dessen Existenz man sich nicht genug freuen, aber dem man sich nicht mehr anheim geben kann.

 

Als nach der Befreiung Buchenwalds eine verstörte Bäuerin aus dem Nachbardorf froh ist, unter den auftauchenden und Eier konfiszierenden Häftlingen Thomas Geve anzutreffen, da er doch „Deutscher“ sei und ihr bestimmt helfen werde, sagt er, das Kind, der Erwachsene, lakonisch, aber bestimmt: „Nein, ich bin kein Deutscher, ich komme aus Buchenwald.“ Ganz ähnlich sprach Jorge Semprún, wenn er schreibt: „Ich bin kein Schriftsteller, auch kein Politiker. Ich bin nur ein Überlebender aus Buchenwald.“

 

In diesen ausgeloteten Möglichkeiten der Moderne, die für Menschen wie Thomas Geve zur Natürlichkeit wurden, wuchsen die Kinder auf. Sie gaben alles, mussten alles geben, um in der Gegenwart zu bleiben und nicht zur Vergangenheit zu werden. In jener bodenlosen Welt wurden sie

 

„groß“. Wie sollten sie nun noch ein Vertrauen in die Möglichkeit, und vor allem Sicherheit einer anderen Welt, einer Welt, die jenseits der Lager existiert, finden? Ahnungen dieser anderen Möglichkeit von Welt gab es auch für sie: Im KZ war es, wo sie erstmals bewußt ... Sehnsucht verspürten, in Gemeinschaft lachten, Frauen nachblickten, was auch immer. Grundlos angesichts jener Welt, aber vorhanden. Und, nicht zuletzt: Thomas Geve hat diese abnorme Welt überlebt, da ihn in den letzten Tagen des Lagers Buchenwalder Mithäftlinge „umlabelten“, d. h. ihm den Judenstern von seiner Häftlingsjacke nahmen und ihn durch einen roten Winkel ersetzten. So entging er dem Todesmarsch. Menschliche Solidarität. Der Mensch als Mensch gesehen.

 

Liselott Walz findet 1945, als sie die Kinder aus Buchenwald in der Schweiz betreut, ebenfalls keinen Grund, keine Vision, kein Ziel, das sie den Jugendlichen geben könnte. Sie hat jener Erfahrung der Lager eigentlich nichts entgegen zu setzen, das aber bestimmt. Sie schreibt: „Ich wußte damals nur, daß ich diese Kinder herzlich liebte (...). Die Behandlung wird allein darin bestehen, sie gern zu haben, ihnen zu zeigen, dass man sie versteht, dass man ihnen helfen möchte.“ Sonst nichts, grundlos.

 

Imre Kertész, im selben Jahr wie Thomas Geve geboren, im selben Jahr wie er von Auschwitz als Kind nach Buchenwald transportiert, schreibt über die Rückkehr in seine Heimatstadt – und die damit verbundene Grundlosigkeit von Liebe und Glück:

„Ja, und wie ich so über den sanft in der Abenddämmerung daliegenden Platz blicke, die vom Sturm geprüfte und doch von tausend Verheißungen erfüllte Straße, da spüre ich schon, wie in mir die Bereitschaft wächst und schwillt: ich werde mein nicht fortsetzbares Dasein fortsetzen. Meine Mutter wartet auf mich und wird sich wahrscheinlich sehr über mein Auftauchen freuen, die Arme. Ich erinnere mich, früher hatte sie den Plan, daß aus mir einst ein Ingenieur, ein Arzt oder dergleichen werde. Es wird aller Wahrscheinlichkeit nach auch so werden, wie sie es wünscht; es gibt keine Absurdität, die man nicht ganz natürlich leben würde, und auf meinem Weg, das weiß ich schon jetzt, lauert wie eine unvermeidliche

 

Falle, das Glück auf mich. Denn sogar dort, bei den Schornsteinen, gab es in der Pause zwischen den Qualen etwas, das dem Glück ähnlich war. Alle fragen mich immer nur nach Übeln, den „Greueln“ (die doch natürlich waren): obgleich für mich vielleicht gerade diese Erfahrung die denkwürdigste ist. Ja, davon, vom Glück der Konzentrationslager, müßte ich ihnen erzählen, das nächste Mal, wenn sie mich fragen. Wenn sie überhaupt fragen. Und wenn ich es nicht selbst vergessen habe.“

 

Thomas Geve lebt heute in Israel. Er freut sich sehr, dass seine Zeichnungen, mit denen er seine Erfahrungen an die Lager festhielt, heute in Deutschland Menschen dazu anregt, über das Glück nach zu denken.

 

Schön, dass Sie hier sind!

Reaktionen von BesucherInnen

 

"Lieber Herr Presley,

sehr beeindruckt und tief bewegt sagen wir Danke!"

 

Beste Grüße, Matthias Gröll

 

 

"Lieber Herr Presley, die Eröffnung war ein wirklich würdevoller und einzigartiger Abschluss der Wanderausstellung. Herzlichen Dank dafür!

 

Dr. Anita Maaß, Bürgermeisterin Lommatzsch und FDP Landesvorsitzende Sachsen

 
 
"Lieber Herr Presley,
ich war von dieser Ausstellungseröffnung sehr berührt. Bereits der Beginn mit der ukrainischen Hymne oder die Reden von Ihnen, Herrn Landrat Damm und Herrn Lüttgenau haben mir wieder ins Gedächtnis geholt, an welchem Freiberger Ort auch Gräueltaten der Nationalsozialisten Realität waren. Gegen das Vergessen. Ich möchte mich vor allem bei Ihnen und dem Intendanten des Mittelsächsischen Theaters Herrn Schulze bedanken, weil Sie die Idee, die Mauthausen-Kantate von Mikis Theodorakis aufzuführen, umgesetzt haben. Die deutschprachige Interpretation von Uta Simone war so intensiv in ihrer Wirkung auf mich, dass ich die Tränen nicht zurückhalten konnte. Ich wünsche Ihnen alles erdenklich Gute für die Zukunft.
 
Dr. Jana Pinka, Kreisrätin

François Maher Presley

Stiftung für Kunst und Kultur
(Gemeinnützige Treuhandstiftung unter dem Dach der Haspa Hamburg Stiftung)
Ecke Adolphsplatz 3, Großer Burstah
20457 Hamburg

 

Schreiben Sie uns und nutzen Sie unser Kontaktformular.

Druckversion | Sitemap
© in-cultura.com GmbH