Vermittlung von Kunst und Kultur
Vermittlung von Kunst und Kultur

Gegen das Vergessen, Wanderausstellung 14. Station

Programm zur Vernissage im Rahmen der Vesper: Donnerstag, 12.10.2022, 18 Uhr

Dauer: 12.10.2023 bis 10.11.2023

 

Chemnitz Kulturhauptstadt Europas 2025, Evangeleisches Forum Chemnitz, St. Jakobikirche, Jakobikirchplatz 1, 09111 Chemnitz

Grußwort durch Pfarrer i.R. Bertram Viertel

 

Einführung Steffen Blech, Stiftungsbotschafter, Bürgermeister Waldheim a.D.

 

Musikalischer Rahmen durch Volker Braun, Piano, Staley Blume, Saxophon

Steffen Blech, Stiftungsbotschafter, Bürgermeister Waldheim a.D.

Derzeit gibt es in Israel und auf deutschen Straßen einen sehr traurigen Anlass sich „Gegen das Vergessen“ zu engagieren. Gestatten sie mir zur Eröffnung der Ausstellung  stellvertretend für den Vorstand der „Francois Maher Presley Stiftung für Kunst und Kultur“ aus Hamburg, einige Worte an Sie zu richten.

Seit etwas mehr als sechs Jahren ist die Stiftung in Sachsen, speziell im mittelsächsischen Raum, ehrenamtlich tätig. Sie hat sich die Aufgabe gesetzt, Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Kunst und Kultur in Kontakt zu bringen, darüber hinaus auch für die Historie und für gesellschaftspolitische Themen zu interessieren.

Im Laufe dieser Jahre wurden für knapp 1.000 Schülerinnen und Schüler über 3.000 Theaterkarten gestiftet, um so vielen ein erstmaliges und einmaliges kulturelles Erlebnis zu verschaffen. Ebenso wurden zahlreiche Lesungen an verschiedenen Schulen oder in Museen durchgeführt, die insgesamt über 1.000 Kinder erreichten. Im letzten Sommer wurde das Projekt der Stiftung „Prinzessin Francois und der königliche Geschichtenerzähler“ in der „Burg der Märchen“ auf der Burg Kriebstein in Zusammenarbeit mit dem „Mittelsächsischen Kultursommer e.V.“ erfolgreich vor ca. 2.300 Besucherinnen und Besuchern aufgeführt. Zu den ungezählt vielen Aktivitäten zählten und zählen regelmäßige Malwettbewerbe an Schulen und auch solche, die sich direkt an die Kinder richten, Förderungen von Museumsbesuchen, museumspädagogische Dienste, museale Ausstellungen aus eigenen Kunstbeständen, musikalische Veranstaltungen und sehr viele Ausstellungen in der stiftungseigenen Galerie in Waldheim, die künstlerisch Talentierten kostenlos zur Verfügung steht sowie Präsentationen an diversen anderen Ausstellungsorten in Sachsen. Eine weitere Galerie widmet sich in einer in Deutschland und Sachsen einmaligen, stehenden Ausstellung der „Resozialisierung durch Kunst und Kultur“ von Strafgefangenen.

Heute sehen Sie Zeichnungen des damals 14 -jährigen Thomas Geve, die er minutiös auf kleinen NS-Notizblöcken gefertigt hat und die den Tagesablauf, eher aber den Schrecken und die Grausamkeit in den Konzentrationslagern festhalten. Erst einmal scheinen sie den Betrachterinnen und Betrachtern als kindlich, doch gerade diese Kindlichkeit der Darstellung hinterlässt bei genauerer Beschäftigung dann einen nachhaltigen Eindruck davon, was Babys, Kinder, Frauen und Männer in damaligen Lagern ertragen mussten, bevor Millionen von Ihnen auf bestialische und unterschiedliche Art und Weise getötet wurden. Die Schrecken sind für keinen Menschen erfassbar. Für den jungen Thomas brannten sich die Ereignisse bis heute tief in sein Wesen.

Das Begleitbuch zu dieser Wanderausstellung, deren 14. Station nun die Jakobikirche in Chemnitz ist, zeigt darüber hinaus erstmalig in ihrer Vollständigkeit und Zusammenstellung Fotos, die der überlebende Alfred Stüber aufgenommen hat. Beeindruckend sind die Bildunterschriften, die in sehr sachlichem Ton die dortigen Erlebnisse bezeugen und erschüttern lassen. Ein Beitrag beschäftigt sich auch mit dem grauenhaften Wüten deutscher Truppen in der Ukraine, wenngleich vor dem russischen Angriffskrieg geschrieben, so doch auch als ein Hinweis zur verstehen, was Großmächte dem ukrainischen Volk seit mehr als einem Jahrhundert angetan haben und in Erinnerung daran, dass es eben dieses Land ist, dass eines der Hauptkriegsschauplätze gewesen ist, so wie es heute wieder dem Größenwahn einer Gruppe oder Teilen eines Volkes ausgesetzt wird.

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren, da ich aus Waldheim komme und zudem der Vorsitzende des Anstaltsbeirates der dortigen JVA bin, erlauben sie mir, diesen Brennpunkt der damaligen Zeit einmal zu beleuchten und darzulegen.

 

Auf dem Boden der alten Waldheimer Burganlage, die 1271 erstmals als „Markgräfliches Schloss“ urkundlich erwähnt wurde, richtete der Besitzer der Burg Kriebstein, Dietrich von Beerwalde, 1404 ein Augustinerkloster ein, das bis 1549 bestand. Im Jahre 1588 kaufte der sächsische Kurfürst Christian I. die Gebäude und ließ sie zu einem Jagdschloss umbauen. 1715 errichtete August der Starke auf dem Gelände ein Zucht-, Armen- und Waisenhaus, das im April 1716 eingeweiht wurde. Bis heute dient die Anstalt ohne Unterbrechung dem gleichen Zweck. Sie ist damit die älteste Justizvollzugsanstalt in Deutschland und bildet die historische Grundlage für alle späteren Landesstraf-, Erziehungs- und Krankenstationen. 1933 erlangte die Justizvollzugsanstalt mit der Einordnung in das System der Gewaltherrschaft traurige Berühmtheit. 

 

Zur Geschichte der Justizvollzugsanstalt gehört ebenso die psychiatrische Anstalt. Die Heil- und Pflegeanstalt Waldheim hatte sich innerhalb des Zuchthauskomplexes Waldheim entwickelt. 1876 wurde eine kleine „Irrenstation bei der Strafanstalt Waldheim“  für männliche geisteskranke Verbrecher eingerichtet. Das war damit die erste forensisch-psychiatrische Einrichtung des deutschen Reiches, welche als zentrale Unterbringungsstätte für psychisch kranke Rechtsbrecher in Sachsen bald auf eine ständige Belegungsstärke von etwa 200 Insassen anwuchs.

 

Bis 1932 war die Betreuung der prinzipiell „schwierigen Patientengruppe psychisch kranker Rechtsbrecher“ in der Waldheimer Pflegeanstalt „vom ernsthaften Bemühen um menschenwürdige Behandlung“ getragen. Die Abkehr vom Humanitätsprinzip lässt sich jedoch in der Folgezeit in der Psychiatrie kontinuierlich verfolgen. 1933 wurde die Heil- und Pflegeanstalt zur zentralen sächsischen Maßregelvollzugsanstalt. Dort wurden männliche Straftäter eingewiesen, deren stationäre Unterbringung nach § 42b des sogenannten „Gewohnheitsverbrechergesetzes“ gerichtlich bzw. staatsanwaltlich angeordnet worden war. Die meisten dieser Straftäter waren sogenannte „Gewohnheitsverbrecher“, sozial unangepasste Menschen, die mit kriminellen Delikten wie Betteln, Landstreichen, Diebstahl, Hausfriedensbruch, Betrug, Sittlichkeitsverbrechen u. ä. aufgefallen waren. Einem Drittel von ihnen war verminderte Zurechnungsfähigkeit aufgrund einer mehr oder weniger ausgeprägten Geistesschwäche zuerkannt worden.

 

Vom Propagandaministerium wurde 1933 die „Bettler Razzia“ initiiert und 1938 vom Reichsführer SS Heinrich Himmler die Aktion „Arbeitsscheu Reich“ eingeleitet, die mehrere Zehntausende „unwerte Leben“ in Lager oder Anstalten beförderte. 1938 wurden 47 Männer im Anstaltskrankenhaus und von den hier eingesessenen weiblichen Strafgefangen 17 Frauen im Kreiskrankenhaus Leisnig unfruchtbar gemacht. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges begann gleichzeitig der deutsche Vernichtungsfeldzug nach innen als Krieg gegen die psychisch Kranken, wobei die psychisch kranken Straftäter als doppelt stigmatisierte Gruppe zu den ersten Opfern zählten. 

 

Im selben Jahr 1938 wurde Dr. Gerhard Wischer zum Leiter der „Heil-und Pflegeanstalt“ bestellt. Mit seinem Dienstantritt war es eine solche kaum noch, denn sie entwickelte sich mehr und mehr zur Durchgangsstation in verschiedene Vernichtungsstätten. Dr. Wischer sortierte nicht nur bei seinen Dienstreisen in verschiedenen Konzentrationslagern kranke Häftlinge zur Tötung aus, er ließ in Waldheim, in seiner eigenen „Pflege“-Anstalt, Patienten durch Verhungern sterben. Er tötete hier selbst durch diverse Medikamentengaben. Sein Leben hat deshalb auch im Zuchthaus geendet.

 

Es gab in Waldheim keinen Patienten, der durch die im Frühherbst 1939 auszufüllenden Meldebögen der „Euthanasie“-Organisation „T4“ nicht erfasst worden wäre. In der Medizin wird von Euthanasie zur Erleichterung des Sterbens, besonders durch Schmerzlinderung mit Narkotika oder durch absichtliche Herbeiführung des Todes bei unheilbar Kranken durch Medikamente oder durch Abbruch der Behandlung gesprochen.

 

Die Geschichte der Euthanasie ist als Begriff in Deutschland stark durch die Zeit des Nationalsozialismus geprägt, dessen Morde unter dem Vorwand der „Rassenhygiene“ ebenfalls als Euthanasie bezeichnet werden. Als grundlegendes Argument für diese Tötungen wurden wirtschaftliche Gründe angeführt. Hier ist ganz deutlich klarzustellen, dass es sich bei einer in diesem Zusammenhang gebrauchten Verwendung des Wortes „Euthanasie“ nicht um Euthanasie im Sinne einer vom Patienten gewünschten Sterbehilfe bei einer unheilbaren Krankheit handelte, sondern um eine verhüllende Umschreibung für ein anstößiges oder unangenehmes Wort. Eine wesentliche Rolle bei der Euthanasie spielte die Medizin und die Initiativfunktion neu installierter wissenschaftlicher Eliten bei den NS-Medizinverbrechen. Wer sich nicht der NS-Ideologie unterordnete, hatte keine Chance zum Aufstieg; kritische Ärzte waren früh entlassen und verfolgt worden.

 

Keine zwei Jahre kann sich Dr. Wischer, der seit 1940 die Chefarztstelle innehat, um seine Waldheimer Anstalt „kümmern“, dann erwartet ihn eine neue Aufgabe. Das „Problem“ lebensunwerten Lebens soll nun einer „Lösung“ zugeführt werden – der Vernichtung. Dafür werden „Gutachter“ gebraucht, und Wischer kann auf Erfahrung verweisen. Er stellt sich auf eigenen Wunsch der T4-Zentrale in Berlin für die „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten“ zur Verfügung, einer Sonderverwaltung, die nicht öffentlich in Erscheinung treten soll. Ihre Aufgabe ist die auf Krankenakten basierende Erfassung und Auswahl der zu tötenden Patienten.

 

Die „Aktion T4“ wurde abgeleitet von der Villa in der Tiergartenstraße 4 in Berlin, der Zentrale der Sonderverwaltung. So lautet der Tarnname für die systematische Ermordung von mehr als 70.000 Menschen mit geistigen oder körperlichen Behinderungen. Ein rotes „+“ für töten oder ein blaues „-„ für weiterleben in einem schwarz umrandeten Kasten auf dem Meldebogen entscheidet. Die Ausgewählten werden zunächst in Zwischenstationen verbracht, was der Verschleierung des eigentlichen Zwecks der Verlegung, der Trennung von Angehörigen und der Regelung des „Nachschubs“ dient. Von dort bringen Busse die Opfer in sechs Tötungsanstalten. Die Exekution findet gruppenweise statt, durch Vergasung mit Kohlenmonoxid. Ein Kurierauto bringt die gefälschten Unterlagen und Urnen zum Verschicken zu weit entfernten Poststellen und Anstalten, damit für die Angehörigen die Nachforschungen erschwert werden. Die Landesanstalt Waldheim fungiert als eine Zwischenstation. Tatsächlich wurden von Anfang Februar bis Anfang März 1940 in fünf Sammeltransporten der gemeinnützigen Krankentransport-Gesellschaft insgesamt 235 Patienten der Waldheimer Heil-und Pflegeanstalt abgeholt. Damit war die Einrichtung leer, ohne ihre Stammbelegung. Die Waldheimer Kranken sind in Brandenburg an der Havel getötet worden.

 

In den Monaten März bis Mai 1940 wurden von verschiedenen psychiatrischen Anstalten insgesamt 498 männliche Patienten über Waldheim nach Brandenburg verlegt. 299 von ihnen waren Anfang März aus den rheinländischen Anstalten Düren und Bedburg-Hau nach Waldheim gekommen und von dort nach vier bis sechs Wochen weiterverlegt worden, die übrigen bis Ende 1940 aus Waldheim nach Brandenburg in den Gastod geschickten Männer waren aus der sächsischen Landes-Heil- und Pflegeanstalt Hubertusburg. Ab Juni 1940 gingen die Krankentransporte nicht mehr von Waldheim nach Brandenburg, sondern nach Sonnenstein bei Pirna.

 

Erst im März 1943 kehrt Wischer wieder ganz nach Waldheim zurück. In der Anstalt und unter Wischers Anleitung werden etwa 20 bis 30 Patienten mittels aktiver „Sterbehilfe“ getötet. In Anwendung kommt dabei eine Mischung von Schlafmittelgabe und allmählichem Verhungern-Lassen. 

 

Gerhard Wischer war von 1938 bis 1945 der leitende Arzt in der Psychiatrie in Waldheim. Nach Kriegsende verbleibt Wischer noch als Arzt in der Anstalt, da er nach seiner Meinung „nichts Böses“ getan habe. Im Oktober 1945 wird er von einem Spezialkommando zur Auffindung von Naziverbrechern verhaftet. Dr. Wischer wurde 1950 wegen seiner aktiven Beteiligung am NS Krankenmord  zum Tode verurteilt und hingerichtet. Die Hinrichtung erfolgte in einem Keller, wenige Meter neben den Krankenräumen, in denen der Arzt jahrelang tätig war. 

 

Unsere Pflicht und Aufgabe ist es, diese Erinnerung wach zu halten und den nachfolgenden Generationen von dieser nicht leichten Vergangenheit zu berichten.


Unser Dank gilt Herrn Landrat a.D. Matthias Damm, der das Engagement der Stiftung stetig und aktiv begleitet hat, so auch diese Ausstellungsserie als Schirmherr, Frau Sabine Winkler, Frau Dorothea Morgenstern für ihren Einsatz.

Gestatten Sie mir, Herrn Presley, den Namensgeber der Stiftung, zum Abschluss meiner Grußworte zu zitieren: „Erst Bildung schafft die Möglichkeit zur Freiheit bzw. in die Nähe von Freiheit zu kommen und gibt die Möglichkeit zur Beteiligung an demokratischer Entwicklung und Mitgestaltung einer Gesellschaft“

In diesem Sinne wünsche ich mir, dass diese Kirche und damit dieses Zentrum wie bisher und weiterhin für alle Besucherinnen und Besucher der Eintritt sein wird, um der nötigen Tiefe in der Auseinandersetzung mit der Geschichte, insbesondere mit der „deutschen“ Geschichte und damit dem Faschismus näher zu kommen.

François Maher Presley

Stiftung für Kunst und Kultur
(Gemeinnützige Treuhandstiftung unter dem Dach der Haspa Hamburg Stiftung)
Ecke Adolphsplatz 3, Großer Burstah
20457 Hamburg

 

Schreiben Sie uns und nutzen Sie unser Kontaktformular.

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