Dagmar Doms-Berger: Herr Presley, die deutsche Sprache ist gespickt mit Wörtern aus dem Jiddischen, etwa das Wort „schachern“, das
nichts anderes als Handel treiben bedeutet, im Deutschen aber negativ verwendet wird für „Handeln wie ein Jude“. Die meisten sind sich gar nicht bewusst, dass dies im Grunde genommen tief
verwurzelter Antisemitismus ist. Wie sehen Sie das?
François Maher Presley: Im eigentlichen Sinne ist der Begriff „Antisemitismus“ bereits falsch gewählt, denn es ist Judenhass. Bei Semiten handelt
es sich nicht um Menschen mit Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion oder einer bestimmten Ethnie, sondern um einen Sprachraum, in dem mehr Araber oder Muslime als Juden leben, früher einmal auch
mehr Christen.
Der „Volksmund“, der ein bisschen die gelebte Sprache darstellt, ist sicherlich mehr dynamisch als eine von einer Sprachkommission festgelegte und in Lexika gebundene
Sprache. Begriffe werden da oft nur übernommen und mit Attributen belegt, entweder aufgrund von eigenen Erfahrungen, die natürlich nicht repräsentativ sein müssen, es oft nicht sind, aber auch weil
eine Generation sie an die nächste weiterreicht, eine Art Hörensagensprache. Nehmen Sie Begriffe wie „Das kommt mir spanisch vor“. Hier wird suggeriert, dass es hier nicht mit rechten Dingen zugeht
oder, bezogen auf die türkischen Einwanderer, „Das ist getürkt“.
Ich bin nicht dafür, dass man Sprache durch moralische Vereinbarungen belastet, da sich diese Vereinbarungen ohnehin im Wandel befinden und die selbst konstruierte Moral
auch keine Deutungshoheit besitzen sollte, wie wir das heute von vielen Seiten der politischen Klasse erleben. Allerdings denke ich, sollte man bereits in der Schule und auch im Freundes- und
Bekanntenkreis solchen daher gesagten oder bestimmt eingesetzten Floskeln Erläuterung abverlangen oder deren Möglichkeiten des Verständnisses aufzeigen. So bleibt die Sprache lebendig, führt zudem
gleichzeitig zu einem Diskurs über ihre mögliche Deutung und gegebenenfalls zu einer Wandlung in ihrer Nutzung.
Wo beginnt
Antisemitismus?
Lösen wir den Begriff einmal in der nächst höheren Ebene auf, so beginnt „Anti“ eigentlich immer bei „Verschlossen gegen fremd“. Das mir Fremde wird oft als das
„Mich-in-frage- Stellende“ gesehen. Unsicherheit in einem selbst führt häufig zur Abwehr, ähnlich einem Selbstschutz. Fremd ist jedoch oft Bereicherung, während gleich eher Gewohnheit ist, Gewohnheit
Sicherheit vermittelt. Gegen etwas sein beginnt also oft in einem selbst und sucht sich eine äußere Erklärung.
Die Juden sind schuld. Und Corona verstärkt dies. Das haben
jüngst mehrere Beispiele gezeigt, etwa die Vergleiche mit Sophie Scholl und Anne Frank. Wie kann man reagieren, um derartigen Bemerkungen
entgegenzutreten?
Es ist offenbar eine degenerierte Einschätzung der heutigen Situation, in der wir in Europa leben, denn Sophie Scholl stand gegen das Ausgrenzen und Töten und wurde
dafür umgebracht. Anne Frank sollte nicht gegen ein Virus und dessen Folgen geschützt werden, sondern musste sich im Angesicht des Todes, der Misshandlungen, der Verbrennungen, des
Totgeschlagen-Werdens, des Vergasens von Millionen Menschen verstecken, fast will man sagen auflösen, um nicht entdeckt zu werden, und doch ereilte sie dieser grauenvolle Tod. Solche Vergleiche
zeigen, wie dumm, ungebildet und unreflektiert viele Leute heute sind, weil mit den freiheitlichen Möglichkeiten oft auch Verantwortungslosigkeit gepaart ist und leider auch die Freiheit, sich gegen
Bildung zu entscheiden.
Die ebenso von Ihnen angesprochenen VerschwörungsgeschichtenerzählerInnen sind offensichtlich beratungsresistent, trotz aller Möglichkeiten, die ihnen eine mehr oder
weniger freie Gesellschaftsform bietet. Hier treffen auch wieder Angst und Überforderung zu, und bei denen, die es eigentlich besser wissen müssten, kann ich nur sagen: Schande über Sie! Schande über
Sie und Ihresgleichen!
Woran erkennt man verschwörungstheoretische
Inhalte?
Erst einmal handelt es sich weniger um Theorien, denn da würde man ja eine wissenschaftliche Basis oder
Vorgehensweise vermuten müssen, sondern um Geschichten. Man erkennt den Richtigkeitsgehalt oft daran, dass diese Erzählungen belegbare Informationen nur soweit nutzen, als sie suggestiv für die
gewollte Aussage einstehen können. Weiterhin kann man sie daran erkennen, dass sie zum einen keine andere Wahrheit gelten lassen, schlimmer aber noch – die Wirklichkeit nicht einbeziehen.
Wirklichkeit besteht aus Nachweisbarkeit. Wahrheit ist subjektiv. Viele Menschen können alle ihre eigene Wahrheit haben. Wirklichkeit jedoch verbindet uns alle, auch wenn wir diese nicht realisieren
können oder wollen. Viele Wahrheiten (Meinungen) kommen der Wirklichkeit am nächsten. Am weitesten von der Wirklichkeit entfernt ist jedoch die eine Wahrheit.
Ihre Stiftung präsentiert die Ausstellung „Gegen das Vergessen“
mit Zeichnungen und Fotografien von KZ-Überlebenden. Was war der Leitgedanke der Stiftung, diese Ausstellung zu präsentieren?
Meine schon mein Leben lang vorhandene und bis zu meinem Tod bleibende Betroffenheit.
Sie haben selbst zahlreiche KZ-Gedenkstätten besucht. Haben Sie
dabei auch erleben müssen, dass sich Besucher zunehmend respektlos verhalten und Führungen gezielt stören? Davon haben mehrere Leiter der Gedenkstätten
berichtet.
Nein. Ich nehme allerdings auch nie an organisierten Führungen teil. Respektlosigkeit habe ich nur in Berlin erlebt, als ich
dort das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ beging.
Zeitzeugen wie Thomas
Geve sind wichtig für die politische Bildungsarbeit. Emotionen sind ein wichtiger Baustein für das Begreifen historischer Fakten. Die meisten Zeitzeugen sind aber inzwischen sehr alt. Was wird ohne
sie?
Mit den Zeitzeugen gehen die unzähligen Berichte nicht, nicht die zahllosen Fotos, das Filmmaterial, die vielen Dokumente und
die wissenschaftlich begründeten Publikationen. Ebenso bleiben die KZ- und Arbeitslager-Gedenkstätten. Und es bleibt die Betroffenheit so lange noch, so lange wir zwischen Moral und Ethik
unterscheiden können.
Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, war 2019 am Lessing-Gymnasium Döbeln zu Gast. Nur
Bildung und Aufklärung könnten helfen, gegen den Antisemitismus vorzugehen, sagte er damals. Was fehlt in der bildungspolitischen Arbeit, in der gesamtgesellschaftlichen
Sensibilisierung?
Es fehlt leider das laute Widersprechen, an dessen Stelle oft die Rücksichtnahme auf die Sozialisierung der Einzelnen steht. Das
gilt für Deutsche gleichermaßen wie für muslimische Zuwanderer. Es fehlt die Zurückhaltung der Presse, die es sich oft zur Gewohnheit gemacht hat, die Situation der Bewohner des Gaza-Streifens mit
der Internierung von Minderheiten in KZs zu vergleichen oder Israels politisches Verhalten fortlaufend moralisch zu bewerten, als wäre Ethik, als wären die Menschenrechte, als wäre die Demokratie
ausgerechnet in Deutschland erfunden worden. Es fehlt der Mut des Einzelnen aufzustehen wie die Geschwister Scholl, selbst auf die Gefahr hin, gesellschaftliche Nachteile dafür in Kauf zu nehmen. Es
fehlt insbesondere an nachhaltiger Bildung und einer Bildungspolitik, die sich nicht immer nur nach unten orientiert, sondern auch fordert und damit fördert. Und immer mehr fehlt es an einer
Berichterstattung, die informiert und weniger suggeriert. Demokratie hat viel mit Bildung zu tun. Bildung ist ihre Basis. Das gilt für die Menschenrechte, das gilt für die Auf- und Annahme des
Fremden, das gilt für jeden Einzelnen in Bezug auf sich und seine Charaktereigenschaften.
Sie stammen aus einem
arabischen Land. Gibt es Erinnerungen an ein konkretes Narrativ?
In diesen Ländern wird nur sehr einseitig ausgebildet. Die dortigen Strukturen sind den anders entwickelten westlichen
Demokratien sehr fremd. Anders als bei der jüdischen Tradition wird hier nicht das Neue, das Weltoffene, die musische oder sonstige Bildung als „gottgefällig“ verstanden. Bildung ist zum großen Teil
eine Hörensagen-Bildung, von den Alten zu den Jungen. In solchen Herrschaftssystemen ist freie Bildung kontraproduktiv. Um ihren Zusammenhalt wenigstens einigermaßen zu erhalten, bedarf es eines
äußeren Feindes. Dieses Kalkül geht bis heute auf. Das gilt ja nicht anders in China, in Russland oder zum Beispiel in Deutschland, wo wir glauben, das Wissen zu haben – ein Widerspruch, der ja schon
einige Male in der Geschichte zu dramatischen Ereignissen führte.
Als 11-jähriger Junge wurde ich nach dem Jom Kippur Krieg zurück nach Syrien zu
meiner Mutter geschickt. Während des Besuchs von Präsident Nixon anlässlich des Waffenstillstandsabkommens mit Israel nach einem weiteren der Angriffskriege durch die arabischen Länder auf das kleine
Land, rief ich auf der Straße, durch die die Wagenkolonne fuhr und Tausende kleine Fähnchen schwenkten, dass Israel ein Recht auf einen eigenen Staat habe. Heute lache ich über dieses Bürschchen.
Damals rissen mich mein Onkel und meine Mutter beiseite und hielten mir den Mund zu aus Angst vor Repressalien.
Weil er einen Text über
die Verbrechen der Wehrmacht geschrieben hatte, der seit Jahren dem wissenschaftlichen Stand entspricht, wurde gegen Jens-Christian Wagner, seit Oktober Leiter der Gedenkstätten Buchenwald und
Mittelbau Dora, eine Strafanzeige gestellt, die zwar von der Staatsanwaltschaft wieder fallengelassen wurde, die aber zeigt, dass dieser wissenschaftliche Konsens infrage gestellt wird. Was muss sich
auf politischer Ebene ändern?
Ich glaube nicht, dass Politiker vieles besser machen als andere. Ich denke, es würde reichen, würde Politik Bildung auch als
Basis der freien Meinungsäußerung verstehen. Freiheit ist ja auch die Möglichkeit der Auswahl. Diese jedoch fordert erst einmal die Kenntnisnahme und das Verständnis. Sogar bei Politikern und damit
für deren Politik.